Kaum ein anderes biologisches Phänomen ist so doppeldeutig wie die Entzündung. Sie ist lebensnotwendig – und zugleich eine der häufigsten Ursachen für chronische Erkrankungen und vorzeitigen Tod. Doch was genau passiert bei einer Entzündung? Warum brauchen wir sie – und wann wird sie gefährlich?
Was ist eine Entzündung?
Der Begriff «Entzündung» (lateinisch inflammatio, von flamma = Flamme) ist bezeichnend: Er steht sinnbildlich für das Feuer, das unser Körper entfacht, um sich zu schützen. Eine Entzündung ist keine Krankheit, sondern eine Reaktion des Immunsystems auf Störungen – etwa durch Krankheitserreger, Gifte oder Gewebeschäden. Ziel ist es, die Ursache zu beseitigen und das betroffene Gewebe zu reparieren.
Diese Abwehrreaktion folgt einem uralten biologischen Programm, das alle höheren Lebewesen besitzen. Schon die klassischen fünf Anzeichen einer Entzündung – Rötung (rubor), Wärme (calor), Schwellung (tumor), Schmerz (dolor) und eingeschränkte Funktion (functio laesa) – beschreiben den sichtbaren Ausdruck dieses komplexen Prozesses.
Wie Entzündungen nützlich sind
Im Akutfall ist eine Entzündung überlebenswichtig. Gelangt zum Beispiel ein Virus in den Körper, erkennt das Immunsystem die fremden Strukturen und löst eine Entzündung aus. Botenstoffe wie Zytokine und Entzündungsmediatoren aktivieren Immunzellen, erweitern die Blutgefässe und locken «Abwehrtruppen» an – weisse Blutkörperchen, die wie eine körpereigene Polizei agieren.
Sie bekämpfen Krankheitserreger, beseitigen Zelltrümmer und setzen Signalstoffe frei, um die Heilung einzuleiten. Fieber, Müdigkeit und Appetitlosigkeit sind dabei keine Krankheitssymptome im engeren Sinn, sondern Teil einer gezielten Energieumverteilung: Der Körper spart Ressourcen, um sie in die Abwehr zu investieren. «Aus biologischer Sicht ist das ein sinnvolles Verhalten», erklärt der Immunologe Burkhard Becher von der Universität Zürich – es schütze andere Menschen vor Ansteckung und verschaffe dem Körper die nötige Ruhe für den Heilungsprozess.
Normalerweise endet dieser «Polizeieinsatz» nach erfolgreicher Arbeit: Der Entzündungsprozess wird durch spezialisierte Botenstoffe abgeschaltet, geschädigtes Gewebe regeneriert sich – und die Entzündungsmarker im Blut, etwa das C-reaktive Protein (CRP), kehren auf Normalwerte zurück.
Wenn das Feuer nicht erlischt – die stille Gefahr der chronischen Entzündung
Doch manchmal bleibt das Feuer im Körper auf niedriger Flamme aktiv. Gelingt es dem Immunsystem nicht, einen Reiz oder Erreger vollständig zu beseitigen, wird aus der akuten eine chronische Entzündung. Sie verläuft oft unbemerkt – ohne Schmerzen, Fieber oder sichtbare Symptome –, richtet aber über Jahre Schaden an. Fachleute sprechen hier von systemischer chronischer Inflammation (SCI).
Die Folgen sind gravierend: Chronische Entzündungen gelten heute als wichtigster Risikofaktor für viele Volkskrankheiten – von Herzinfarkt und Schlaganfall über Diabetes bis hin zu Krebs, Demenz und Autoimmunerkrankungen. Schätzungen zufolge spielt sie bei bis zu 50 Prozent aller Todesfälle weltweit eine entscheidende Rolle. Der Mechanismus ist tückisch: Dauerhaft erhöhte Entzündungswerte schädigen Gefässe, beschleunigen die Atherosklerose («Arterienverkalkung») und fördern Stoffwechselstörungen. Auch im Gehirn kann die anhaltende Aktivierung des Immunsystems Nervenzellen zerstören – ein Prozess, der mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer in Verbindung gebracht wird.
Warum Entzündungen chronisch werden
Dass der Körper manchmal «vergisst», den Entzündungsschalter wieder umzulegen, hat viele Ursachen. Neben genetischen Faktoren spielen Umwelt und Lebensstil eine zentrale Rolle.
- Dauerstress, Schlafmangel und psychische Belastung aktivieren Stresshormone, die wiederum entzündungsfördernde Signalwege anregen.
- Übergewicht, insbesondere das viszerale Fettgewebe im Bauchraum, ist ein starker Entzündungstreiber: Fettzellen produzieren selbst Zytokine, die den Körper in einen permanenten Alarmzustand versetzen.
- Rauchen, ungesunde Ernährung mit viel Zucker und gesättigten Fettsäuren, sowie Bewegungsmangel verstärken diesen Effekt.
Das Immunsystem reagiert auf diese dauerhaften Störungen ähnlich wie auf eine Infektion – mit dem Unterschied, dass kein äusserer Feind existiert. Statt Bakterien oder Viren werden körpereigene Strukturen attackiert. Es entsteht ein Teufelskreis aus Reizung, Abwehr und Gewebeschaden.
Die biochemische Basis – das Inflammasom als Alarmanlage
Eine zentrale Rolle spielt dabei das sogenannte Inflammasom, ein Proteinkomplex in Immunzellen, der auf Stresssignale und Fremdstoffe reagiert. Becher bezeichnet es als «unseren Xenophobie-Rezeptor» – es springt auf alles an, was fremd oder schädlich erscheint. Wird das Inflammasom dauerhaft aktiviert, etwa durch oxidativen Stress, erhöhte Blutfette oder Umweltgifte, hält es die Entzündung am Laufen. Mit zunehmendem Alter steigt zudem die allgemeine Entzündungsaktivität – ein Phänomen, das Forscher als «Inflammaging» bezeichnen. Es gilt als ein wesentlicher Mechanismus des Alterns selbst.
Entzündung als Teil des Gleichgewichts
Trotz aller Gefahren hat die Entzündung aus Sicht der Evolution eine sinnvolle Funktion: Sie dient der Wiederherstellung der Homöostase, also des inneren Gleichgewichts. Der Körper versucht, auf Belastungen oder Ungleichgewichte – gleich welcher Art – zu reagieren. Wenn jedoch die Reizquelle dauerhaft bestehen bleibt, verliert das System seine Balance. Becher bringt es auf den Punkt: «Ein zentrales biologisches Grundgesetz ist die Homöostase. Dieses Prinzip, mit dem alle Körperfunktionen im Gleichgewicht gehalten werden, dominiert alles.»
Was wir selbst tun können
Die gute Nachricht: Der Mensch ist der chronischen Entzündung nicht hilflos ausgeliefert. Studien zeigen, dass Lebensstiländerungen messbar auf die Entzündungswerte wirken können:
- Ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse, Obst, Vollkornprodukten, Omega-3-Fettsäuren und wenig Zucker senkt das CRP messbar.
- Regelmässige Bewegung reduziert Entzündungsbotenstoffe und verbessert die Insulinsensitivität.
- Erholsamer Schlaf und Stressbewältigung (z. B. durch Achtsamkeit oder Meditation) wirken ebenfalls entzündungshemmend.
- Und auch Nikotinverzicht und Gewichtsreduktion gehören zu den wirksamsten Massnahmen gegen das stille Entzündungsfeuer.
Fazit
Eine Entzündung ist ein Meisterwerk der Biologie – ein hochkomplexer Mechanismus, der unser Überleben sichert. Doch wenn er ausser Kontrolle gerät oder dauerhaft aktiv bleibt, wird aus der schützenden Flamme ein schleichendes Feuer, das unsere Gesundheit bedroht. Das Wissen um die Doppelnatur der Entzündung – lebenswichtig und lebensverkürzend zugleich – ist der Schlüssel zu einem bewussten, entzündungsarmen Lebensstil.
Quellen:
- Niederer, A. (2024). Chronische Entzündung: Wie sie Krankheiten fördert und Leben verkürzt. NZZ, 8. Juni 2024.
- Becher, B. et al., Universität Zürich – Zitate aus dem NZZ-Interview.
- Calder, P. C. (2022). Inflammation and lifestyle medicine. Nutrients, 14(5): 1031.
- Hotamisligil, G. S. (2017). Inflammation, metaflammation and immunometabolic disorders. Nature, 542: 177–185.