Schweres Krafttraining im Alter – die beste Medizin! 

Wenn wir an das hohe Alter denken, haben viele noch das Bild vom körperlichen Abbau vor Augen: weniger Kraft, eingeschränkte Beweglichkeit, Abhängigkeit von Hilfe im Alltag. Lange Zeit galt das als unausweichlich. Doch eine wegweisende Studie aus den späten 1980er-Jahren hat dieses Bild revolutioniert – und gezeigt: Selbst hochbetagte Menschen können mit gezieltem und hartem Krafttraining ihre Muskulatur stärken, ihre Selbstständigkeit zurückgewinnen und ihre Lebensqualität deutlich verbessern.

Ein ungewöhnliches Experiment
1988 lebten 712 Menschen im «Hebrew Rehabilitation Center for the Aged» in Boston. Durchschnittsalter: 88 Jahre. Die meisten hatten mehrere chronische Erkrankungen, viele waren auf Gehhilfen angewiesen. Genau hier startete die junge Ärztin Maria Fiatarone ihr mutiges Forschungsprojekt: Sie liess die Bewohnerinnen und Bewohner ein strukturiertes hochintensives Krafttraining absolvieren – etwas, das damals für 90-Jährige als «gefährlich» oder gar unmöglich galt.
Ihre Wahl fiel auf eine einfache Übung: die Kniestreckung (Knee Extension). Sie stärkt die Oberschenkelmuskulatur, ist im Sitzen durchführbar und direkt relevant für Alltagsbewegungen wie Aufstehen oder Gehen.

So lief das Training ab:
Teilnehmer:innen:

  • 10 hochbetagte Bewohner (6 Frauen, 4 Männer), alle mit Vorerkrankungen.
  • Training: 3 Einheiten pro Woche, je 3 Sätze à 8 Wiederholungen.
  • Intensität: Zunächst bei 50 % des persönlichen Maximalgewichts (1-RM), danach bei 80 % – also ein richtig «schweres Training».
  • Dauer: 8 Wochen.

Trotz ihres Alters und ihrer gesundheitlichen Einschränkungen war die Teilnahmerate an den Trainings 98,8 % – ein Beweis, wie machbar und sicher das Programm war.

Die Ergebnisse: eine Sensation!
Die Fortschritte waren verblüffend:

  • Kraftzuwachs: Im Durchschnitt +174 %.
  • Der geringste Zuwachs lag bei 61 %, der höchste bei 374 %.
  • Gehgeschwindigkeit: Steigerung um fast 50 %.
  • Muskulatur: Zunahme ähnlich stark wie bei jüngeren Menschen, die das gleiche Programm absolvieren.

Die 92-jährige Dorothy Tishler etwa steigerte ihr Maximalgewicht von 17 Pfund auf 60 Pfund pro Bein – in nur acht Wochen! Ihr Kommentar: «Ich fühle mich jünger. Als ich hierherkam, konnte ich kaum gehen. Jetzt gehe ich besser als meine Tochter, die ist 72.»

Warum das so wichtig ist.
Die Studie bewies erstmals: Alter schützt nicht vor Muskelwachstum.
Bisher war man davon ausgegangen, dass ab etwa 30 Jahren die Muskulatur kontinuierlich und unaufhaltsam schwindet – ca. 3–5 % pro Jahrzehnt, ab 60 sogar bis zu 1 % pro Jahr. Alltägliche Bewegung oder leichtes Training reicht nicht aus, um diesen Verlust aufzuhalten. Nur gezieltes, progressives Krafttraining kann den Prozess stoppen oder sogar umkehren.
Für die Bewohner des Pflegeheims bedeutete das: mehr Autonomie, weniger Stürze, mehr Lebensqualität. Und für die Wissenschaft: ein Paradigmenwechsel in der Altersmedizin.

Ist das nicht gefährlich?
Die grösste Sorge damals wie heute lautet: «Kann das Herz-Kreislauf-System das aushalten?» – Die Antwort: Ja.
Während des Trainings wurden Blutdruck und Puls kontinuierlich überwacht. Ergebnis: keine Komplikationen. Selbst die fragilen 90-Jährigen vertrugen das Training problemlos, da die Bewegungen kontrolliert und langsam ausgeführt wurden.
Fiatarone formulierte es so: «Die bekannten Risiken von Immobilität und Stürzen überwiegen bei Weitem die potenziellen Risiken von Krafttraining in dieser Population.»
Zahlreiche Folgestudien bestätigen bis heute: Krafttraining ist sicher – für jedes Alter und jede körperliche Ausgangslage.

Kontinuität ist entscheidend.
Ein wichtiger Lerneffekt: Die positiven Effekte halten nur an, wenn man dranbleibt. Nach Studienende kehrten die meisten Bewohner mangels Programm in den alten Alltag zurück – und verloren innerhalb weniger Wochen einen Teil ihrer Fortschritte.

Die Botschaft: Krafttraining muss zur Routine werden, genau wie Zähneputzen. Schon zwei Einheiten pro Woche reichen, um die Muskulatur dauerhaft zu erhalten.

Was bedeutet das für uns heute?

  • Es ist nie zu spät. Selbst im hohen Alter sind enorme Verbesserungen möglich.
  • Schweres Training ist der Schlüssel. Nur ausreichend hohe Reize bringen den Muskel zum Wachsen.
  • Sicherheit geht vor. Unter fachlicher Anleitung (z. B. bei Physiotherapeuten oder im betreuten Gym) ist das Risiko minimal.
  • Lebensqualität gewinnt. Mehr Kraft bedeutet mehr Selbstständigkeit, weniger Schmerzen, bessere Balance und weniger Stürze.

Fazit: Die beste Medizin
Die Geschichte aus Boston hat gezeigt: Krafttraining ist die beste Medizin im Alter. Keine Pille kann so umfassend wirken – auf Muskeln, Knochen, Herz, Stoffwechsel und Psyche.

Oder, um es mit Dorothy Tishler zu sagen: «Ich fühle mich jünger.» Wer im Alter stark bleiben möchte, sollte also nicht aufhören, schwere Gewichte zu bewegen – im Gegenteil: Jetzt erst recht!