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Die Tarifverhandlungen in der Physiotherapie finden in der Schweiz direkt zwischen den Tarifpartnern, den Krankenversicherungen (vertreten durch Santésuisse) und den Physiotherapeuten (vertreten durch ihren Verband Physioswiss) statt. Sollten diese Verhandlungen scheitern, das heisst zu keinem von beiden Parteien akzeptierten Ergebnis führen, entscheidet der Bund via das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) über die Tarifstruktur.

Das ist jüngst passiert und das BAG hat zwei Vorschläge für eine Tarifrevision in der Physiotherapie in die Vernehmlassung gegeben. (Für interessierte: Link zum Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens). Auf den ersten Blick schauen die beiden Vorschläge – wohl insbesondere für Branchenfremde – vernünftig und «harmlos» aus. Variante 1 sieht vor, die bestehenden Sitzungspauschalen für allgemeine Physiotherapie (Tarifposition 7301) und aufwändige Physiotherapie (Tarifposition 7311) mit einer Mindestsitzungsdauer zu ergänzen und zusätzlich eine neue Pauschale für eine Kurzsitzung von 20 Minuten einzuführen. Variante 2 sieht vor, anstelle der bisherigen Pauschalen eine neue Grundpauschale (Sitzungszeit von mindestens 20 Minuten) sowie eine neue Position für jede weitere 5 Minuten Sitzungszeit einzuführen. Schaut man die Vorschläge etwas genauer an, fallen vor allem folgende Punkte auf:

In beiden Vorschlägen sind neu Sitzungen von 20 Minuten vorgesehen. Eine physiotherapeutische Sitzung dauert heute an den allermeisten Orten 30 Minuten und beinhaltet etwa 5 Minuten für den administrativen Aufwand, der im Zusammenhang mit der Therapiesitzung entsteht (Führung des Patientendossiers, etc.). Was hier nun quasi durch die «Hintertüre» eingeführt wird, ist der 20-Minuten-Rhythmus. Zwar wird die Physiotherapie bezogen auf den Stundenumsatz nicht schlechter gestellt (man behandelt neu einfach 3 anstelle von 2 Patienten) aber die Versicherer bezahlen pro Patienten rund 33% weniger. Clever, nicht? Wer von Ihnen schon in der Physiotherapie war, weiss, dass 20 Minuten in den meisten Fällen nicht ausreichen, um eine qualitativ sinnvolle Therapieleistung zu erbringen. Wieviel Zeit benötigt nur schon das Aus- und Ankleiden, die Frage nach dem Befinden und das Nachführen des Patientendossiers? Bei einem 20 Minuten Termin bleibt da kaum noch etwas übrig. Dem Patienten würde mit dieser Änderung das Recht auf eine wirkungsvolle, qualitativ adäquate Behandlung wohl weitestgehend genommen.

Darüber hinaus würden wir wohl auch einen signifikanten Teil unserer Mitarbeitenden verlieren. Physiotherapeuten sind in der Schweiz sehr gut ausgebildet und übernehmen tagtäglich eine grosse Verantwortung. Sie verfügen heute über eine Matura und einen Studienabschluss bei einer vergleichsweise bescheidenen Entlöhnung. Ein achtstündiger Arbeitstag eines Therapeuten bedeutet heute 16 Patienten. Das ist anstrengend und braucht viel Energie. Werden aus diesen 16 nun 24 Patienten sprechen wir bald von «Fliessbandarbeit». Das ist wohl auch mental kaum mehr in der notwendigen Qualität zu bewerkstelligen und führt mit Sicherheit zu einer Kündigungswelle, was den aktuellen Mangel an Physiotherapeuten weiter dramatisch verschärft.

Ein weiterer Punkt betrifft die Tarifposition 7311 in der Physiotherapie. Die Tarifposition 7311 für sogenannte «aufwendige Physiotherapie» kommt aktuell dann zur Anwendung, wenn der Patient ein komplexes Krankheitsbild aufweist. Was das heisst, ist in der aktuellen Tarifordnung genau festgelegt. So kommt der Tarif unter anderem zum Tragen, wenn mehrere nicht benachbarte Gelenke betroffen sind, eine Beeinträchtigung des Nervensystems, sensomotorische Verlangsamungen oder kognitive Defizite, relevante Nebendiagnosen wie beispielsweise Diabetes oder eine palliative Situation vorliegen. Solche komplexen Krankheitsbilder fordern den Physiotherapeuten deutlich mehr und erfordern eine aufwändigere Anamnese und einen entsprechend sicheren, gut abgestützten Behandlungsplan. Nicht selten werden diese Fälle bei uns auch ausserhalb der Behandlungszeit an den wöchentlichen Teamsitzungen besprochen. Ein höherer Tarif ist für diese Position somit gerechtfertigt.

Die beiden Vorschläge des Bundesrates sehen nun vor, dass die Behandlungsdauer für die Tarifposition 7311 auf mindestens 45 Minuten festgelegt wird. Damit entspricht die Entschädigung pro Zeiteinheit für die aufwändige Physiotherapie neu exakt der Entschädigung für eine «normale» Physiotherapie. Wird das Modell so umgesetzt, hat das mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Qualitätseinbusse für die betroffenen Patienten zur Folge, denn die vorgesehene Entschädigung für Physiotherapie erlaubt es den Praxen nicht, diesen «Extra-Effort» umsonst zu leisten. Werden alle weiteren Parameter so belassen, führt diese Änderung der Tarifordnung in den meisten Praxen zu Umsatzeinbussen in der Grössenordnung von 20-25%.

Und nun noch ein Wort zu den Kosten der Physiotherapie: Mit Umsetzung der in Vernehmlassung befindlichen Tarifordnung wird der von einem Therapeuten erzielbare Umsatz im schweizerischen Durchschnitt bei etwa CHF 95 pro Stunde festgelegt. In diesem Stundensatz ist alles eingeschlossen. Für den Einsatz teurer Trainings- und Therapiegeräte (eine gut ausgerüstete Praxis hat hier schnell einmal CHF 300’000 in der Bilanz), interne und externe Fortbildungen, Administration, IT, Miete….schlichtweg alles, was es braucht, um eine Praxis zu betreiben. Wenn wir das nun vergleichen mit den Stundensätzen unseres Treuhänders, der Kosmetikerin, des Gärtners (der notabene noch jede Maschine verrechnet), des Automechanikers oder wohl auch der Mitarbeitenden des BAG, dürfte es klar werden, warum immer mehr Physiopraxen keinen Nachfolger mehr finden oder gezwungen sind, mit Fitnessabos die Trainingsinfrastruktur für ihre Patienten zu subventionieren.

Spannend ist auch, dass die gleichen Krankenversicherer, welche der Meinung sind, dass CHF 95 pro Stunde für eine qualitativ hochwertige Physiotherapie genügen, über Ihre Zusatzversicherungen medizinische Massagen mit CHF 150 oder Osteopathie mit CHF 180 pro Stunde entgelten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Auch die Löhne der Angestellten der Versicherer, die sich notabene auch in den Kosten der Grundversicherung niederschlagen, sind im Gegensatz zu denjenigen der Physiotherapie in den letzten 20 Jahren «marktüblich» gestiegen. Dasjenige Gehalt von Sanitas CEO Andreas Schönenberger ist in den letzten fünf Jahren gar von CHF 469’272 auf CHF 956’486 angestiegen – also um über 100%.

Es ist unbestritten, dass die Kosten der Physiotherapie, welche etwa 3.5% der Gesundheitskosten ausmachen in den letzten Jahren im Durchschnitt stärker gestiegen sind als die anderen Kosten der obligatorischen Grundversicherung. Warum ist das so? Hier gibt es wohl keine einfache abschliessende Antwort. Zum einen haben wir immer mehr ältere Menschen in der Physiotherapie, mit dem Ziel, diesen länger ein selbständiges Leben zu Hause zu ermöglichen, weiter wird heute mehr als früher versucht, Operationen mit Physiotherapie hinauszuzögern oder gar zu vermeiden und Patienten werden postoperativ viel früher aus den Spitälern geschickt als noch vor einigen Jahren. Dazu – und das ist auch richtig so – haben Physiotherapeuten heute auch eine bessere Kenntnis der Tarifstruktur und rechnen das ab, was ihnen von Gesetzes wegen auch zusteht.

An der ganzen Kostendiskussion stört ausserdem, dass dabei die Wirkung von physiotherapeutischen Leistungen aufs gesamte Gesundheitssystem ausser Acht gelassen wird. Investiert man in die Physiotherapie, können dadurch anderswo Kosten eingespart werden. Studien zu Knie- und Rückenschmerzen zeigen exemplarisch auf, dass hier ein grosses Potential vorhanden wäre. Die Kosten für bildgebende Verfahren, Medikamente, Operationen übersteigen um ein Vielfaches die Physiotherapiekosten. Das heisst, dass die Physiotherapie bei sehr vielen Beschwerden das beste Preis-/Leistungsverhältnis im Gesundheitssystem hat. Investiert man in die Physiotherapie, hat das einen positiven Effekt auf die Gesamtkosten.

Abschliessend darf man mit Recht behaupten, dass der neue Tarifvorschlag einseitig die Bedürfnisse der Krankenversicherer berücksichtigt und den finanziellen und strukturellen Problemen der Physiotherapie keine Rechnung trägt. Es ist zugegebenermassen spekulativ, wenn man vermutet, dass angesichts des bevorstehenden erneuten Prämienanstiegs in der Grundversicherung an den günstigsten Leistungserbringern des Gesundheitswesens, den Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten ein Exempel statuiert werden soll und man der Bevölkerung einen «Beschwichtigungsknochen» hinwerfen will.

Nicht als Spekulation gilt jedoch die Aussage, dass bei Umsetzung des Vernehmlassungsvorschlages die Physiotherapie in unserem Land in den freien Fall gestossen wird. Unterstützen Sie uns, damit es nicht so weit kommt – wir halten Sie auf dem Laufenden.

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