Select Page

 

Die Vorstellung von Stress löst bei den meisten Menschen Unbehagen aus. Termindruck, Verantwortung und die Last der Erwartungen können sich wie ein Schatten auf den Alltag legen. Jeder von uns hat jemanden in seinem Umfeld, der schon ein Burnout erlitten hat. Stress gilt als Krank- und Dickmacher und Schmerzverstärker. Er zerstört Herz und Hirn, macht trübsinnig und vergesslich.

Also etwas Furchtbares. Aber ist das wirklich die ganze Wahrheit? Warum sind dann Topmanager, Fluglotsen, Extremsportler oder Kampfpilotinnen nicht dauerhaft krank?

Lassen Sie uns heute deshalb einen etwas differenzierteren Blick auf die Angelegenheit werfen. Denn Stressexperten und Forscher haben längst erkannt, dass nicht alle Stressoren gleichermaßen schädlich sind. Ein gesundes Mass an Stress kann uns nicht nur wach, fit und freundlich machen, sondern auch zahlreiche positive Effekte auf unseren Körper und unsere Psyche haben. Wichtig ist, dass Stress nicht zum Dauerzustand wird.

Stress als Katalysator für Höchstleistungen

Helen Heinemann, Gründerin des Hamburger Instituts für Burnout-Prävention (IBP), schwört auf den „Hormoncocktail“ aus Adrenalin und Cortisol, den sie bei stressigen Situationen produziert. Für sie ist Stress ein Motor, der sie auf Hochtouren laufen lässt, sie fokussiert und alle unwichtigen Dinge ausblendet. Doch nicht jeder teilt diese Begeisterung für stressige Situationen. Viele Menschen sehnen sich nach weniger Druck und Leistung.

Stress als Förderer von Lern- und Erinnerungsprozessen

Der Kognitionspsychologe Oliver T. Wolf von der Ruhr-Universität Bochum betont die entscheidende Rolle von Stress für Lern- und Erinnerungsprozesse. Soziale Stresssituationen, wie sie im Trier Social Stress Test (TSST) simuliert werden, haben gezeigt, dass gestresste Probanden sich Gegenstände besser merken als nicht gestresste. Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol tragen dazu bei, dass neu Gelerntes im Gehirn verfestigt wird. Stress kann also beim Lernen helfen und zu Höchstleistungen anspornen.

Stress als Unterstützung bei der Bewältigung von Ängsten

Stresshormone wie Cortisol können auch bei der Therapie von Ängsten und Traumata unterstützen. Studien haben gezeigt, dass Patienten, die vor einer Konfrontationstherapie mit Spinnenphobie Cortisol verabreicht bekamen, weniger ängstlich reagierten. Ähnliche Effekte wurden auch bei Herzpatienten beobachtet, die vor einer Operation Cortisol erhielten. Stresshormone können somit die schädigenden Wirkungen von Stress umkehren.

Stress fördert soziale Bindungen

Markus Heinrichs von der Universität Freiburg betont, dass Stress nicht nur individuelle Leistungen beeinflusst, sondern auch soziale Bindungen stärken kann. Oxytocin, ein Hormon, das bei stressigen Situationen ausgeschüttet wird, fördert nicht nur die Bindung zwischen Eltern und Kindern oder Partnern, sondern kann auch die Reaktionen auf sozialen Stress abmildern. Experimente mit Paaren, die Oxytocin erhielten, zeigten eine gesteigerte Zugewandtheit und geringere Stressreaktionen.

Stress als Immunsystem-Booster

Nicht nur auf psychischer, sondern auch auf physischer Ebene kann Stress positive Auswirkungen haben. Kurzfristiger Stress, sei es durch Sport oder zeitlichen Druck, kann die Immunabwehr stärken. Studien haben gezeigt, dass nach kurzfristigem Stress vermehrt Zellen und Abwehrstoffe im Blut zirkulieren. Dieser Effekt kann die Heilung von Wunden beschleunigen und die Wirksamkeit von Antibiotika oder Antitumor-Therapien verbessern.

Die Einstellung zum Stress macht den Unterschied

Die US-Psychologin Alia Crum von der Stanford University betont, dass die individuelle Einstellung zum Stress einen großen Einfluss darauf hat, wie dieser empfunden wird. Menschen, die Stress als förderlich und unterstützend betrachten, zeigen geringere Stressreaktionen als jene, die Stress als schädlich erleben. Eine positive Einstellung kann bereits durch kurze Videos vermittelt werden, die die gesundheitsfördernden Aspekte von Stress betonen.

Fazit: Stress als Quelle von Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit

Die Erkenntnisse aus verschiedenen Studien zeigen, dass Stress nicht per se negativ ist. Ein ausgewogenes Mass an Stress kann uns nicht nur zu Höchstleistungen motivieren, sondern auch soziale Bindungen stärken, die Immunabwehr verbessern und die Heilung von Wunden fördern. Die individuelle Einstellung zum Stress spielt dabei eine entscheidende Rolle. Anstatt Stress zu vermeiden, sollten wir lernen, ihn als etwas grundsätzlich Positives zu erkennen und ihn als Motor für persönliche Entwicklungen und Herausforderungen zu nutzen. So wird Stress nicht länger als Belastung, sondern als Quelle von Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit wahrgenommen.

Buchtipp zum Thema: Heinemann Helen: «Warum Stress uns glücklich macht. Oder: Wieso wir aufhören sollten zu entspannen». Adeo, 2015

    Teilen Sie aktiv!