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Die TORTOUR ist der grösste mehrtägige Nonstop-Ultracycling-Event der Welt. Das Rennen mit Start und Ziel in Schaffhausen fordert Radsportlern und ihren Crews alles ab: In nur zwei Tagen ist eine 1000 Kilometer lange Nonstop-Rennstrecke über mehrere Alpenpässe mit knapp 15’000 Höhenmetern rund um die Schweiz zu meistern – Tag und Nacht wird gefahren, solo oder im Team.
Carmen Büsser und Coni Angst von der Aktiv Physio waren als Betreuerinnen des «Team Bugi» mit dabei. Daniel Bugmann und seine 17-jährige (!) Tochter Sabrina starteten als mixed Team ins Rennen. Sabrina Bugmann hat den nachfolgenden Blogbeitrag für uns verfasst und lässt uns so an Ihrem Abenteuer auf eindrückliche und offene Weise teilhaben.

«Unfinished Business» 

Am Abend vor der TORTOUR 2019 ging ich durch die Hölle. Zuerst quälten mich Magenschmerzen, dann hatte ich andauernde Krämpfe im linken Bein und kriegte zu all dem kein Auge zu, obwohl ich wusste, dass ich die nächsten 48 Stunden – auf dem Rad oder im Begleitfahrzeug – unterwegs sein werde.
Ich nahm schon an einigen Wettkämpfen und vielen wichtigen Prüfungen teil, aber so nervös war ich noch nie in meinem Leben. Während mein Vater (und zugleich Teamkollege) neben mir friedlich die letzten Stunden Schlaf geniessen konnte, kriegte ich alle paar Minuten Schweissausbrüche und schaute ständig auf die Uhr, in der Hoffnung, dass es endlich ein Uhr morgens wird.

Als wir dann kurz vor zwei Uhr in der Nacht in Schaffhausen am Start gestanden sind, war die Nervosität verschwunden und die Müdigkeit und die Schmerzen weggesteckt. Ich spürte das Adrenalin und die zuvor unauffindbare Energie durch meinen Körper fliessen. 3, 2, 1… unser «Team Bugi» startet und eine Welle von Glücksgefühlen überkam mich. Was mir durch den Kopf ging? Egal wie das Ganze ausgeht, du bist eine Kämpferin, niemand traut sich das mit 17 Jahren. Und auf dem Foto nach der Startlinie musst du unbedingt lächeln!

Als nach einer ganzen Nacht auf dem Rad – sprich 115 Kilometer – der Morgen dämmerte, fühlte ich mich gut. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, das mache ich grundsätzlich nie, wenn ich eine so lange Strecke fahre. Aber als ich den ersten Fussgänger mit seinem Hund sah und die Coop Tankstelle öffnete, wusste ich, dass ich schon eine Weile unterwegs bin. Zufrieden habe ich kurz danach in Oberriet an meinen Vater übergeben.

Nach ein paar Stunden Regeneration im Auto ging es für mich über den Klausenpass. Anstrengend, aber weiterhin nicht problematisch. Ich hatte viel Zeit, um nachzudenken und mich intensiv mit meiner Musik-Playlist auseinanderzusetzen. Ein einziges Mal dachte ich, ich will nicht mehr. Aber als mein Vater dann sagte: «Ja denn höremer jetzt halt uf und gönd hei», wollte ich mich nicht auf eine Diskussion einlassen und wichtige Energie verschwenden. In aller Ruhe pedalierte ich weiter und nahm eine Kurve nach der anderen in Angriff.

Zu meinem (oder unserem) Glück übernahm mein Vater dieses Jahr die Etappe über den Sustenpass. Dafür durfte ich auf der anderen Seite herunterfahren. Dort hatte ich einen dieser Momente, indem ich einfach dankbar war, dies tun zu dürfen. An einem Freitagnachmittag bei dem schönsten Wetter auf dem Rad in den Bergen zu sein, unbezahlbar. In der Ebene hing ich dann im Gegenwind und wegen einem grossen Stau musste ich es sehr lange ohne mein Begleitfahrzeug aushalten.

Danach hatte ich eine lange Pause und konnte mich gut erholen. Nach der folgenden Etappe, die unproblematisch war, wechselten wir das Betreuer-Team in Zollikofen nahe Bern. Es war nun mitten in der Nacht und ich wusste, dass die zwei folgenden Etappen hart werden. Ich habe für mich selbst entschieden, dass ich mich von Cheyres nach La-Chaux-Fonds (allein) und von La-Chaux-Fonds nach Biel (gemeinsam mit meinem Vater) durchkämpfen muss, danach wäre es geschafft. Es würden zwar noch drei Etappen folgen, aber ich sah die nächsten Stunden als grosse Hürde an. Ich stellte mich mental auf die Strecke ein und ging mit viel Energie in die 40 ersten flachen Kilometer. Danach wechselte ich mein Fahrrad (vom Zeitfahr-Velo auf das normale Rennrad) und alles sah weiterhin gut aus.

Als der erste Anstieg kam, musste ich kämpfen. Ich spürte keine Energie mehr und entschied sogar bei einem ganz steilen Stück mein Fahrrad zu schieben. Danach fuhr ich weiter. Aber die Müdigkeit und fehlende Energie machten mir zu schaffen. Ich spürte, dass ich Hunger hatte, aber mein Körper wehrte sich gegen dieses Signal. Bei einem Schluck meines Getränks wurde mir schlecht. Der Gedanke an Essen löste noch mehr Übelkeit aus. Und dann kam zum ersten Mal nach 26 Stunden der Gedanke aufzugeben. All die kleinen Dinge, welche zuvor nicht funktioniert hatten, konnte ich mit meiner mentalen Stärke ignorieren. Ich dachte fast immer nur an das «Gewinnen». Ich habe für mich selbst entschieden, dass wir gewinnen, wenn wir ins Ziel fahren, egal welchen Platz wir belegen. Ich dachte an all die Stunden die ich investiert hatte, die Momente, in denen ich lieber etwas anderes getan hätte, aber mich dann doch auf das Velo geschwungen hatte.

Aber morgens um halb fünf irgendwo im Wald zwischen Cheyres und La-Chaux-Fonds legte ich mein Fahrrad ins Gras, nahm mein Handy und wählte die Nummer eines Betreuers. Ich erklärte, dass das jetzt das Ende ist und dass es mir leidtun würde. Das tat es wirklich. Ich versuchte nochmal ein paar Meter zu fahren, um sicherzustellen ob die Energie nicht gleich wiederkommt, aber es war vorbei. Es war nicht wie im Training, wo ich manchmal denke, es geht nicht mehr, obwohl es noch lange geht. Ich war an meiner Grenze, die Frage ist nur, ob ich sie hätte überschreiten sollen.

Ich hörte nicht auf zu weinen, denn mein kleiner Traum, unser kleiner Traum war gerade zerplatzt. Ich habe so laut geweint, ich bin sicher, dass die Frau in der Rennzentrale mich im Hintergrund durch das Telefon gehört hatte, als mein Vater(?) unsere Aufgabe meldete. Aber in diesem Moment war ich mir so sicher, dass das die richtige Entscheidung ist. Das war ich mir auch noch am Tag danach, obwohl ich mich das ganze Wochenende wie eine Verliererin gefühlt hatte.
Nun sind einige Tage vergangen und – auch wenn man das nicht tun sollte – zweifle ich an meiner Entscheidung. Ich überlege mir, ob ich eine Pause im Auto hätte machen sollen, ob ich nicht doch hätte versuchen sollen zu essen, oder ob ich wirklich an meiner Grenze war?

Das alles bringt mir nichts ausser noch mehr schlaflose Nächte und verschwendete Zeit. Ich konzentriere mich nun auf die Zukunft. Seit einer Woche bin ich wieder am Trainieren und werde die Intensität über Zeit kontinuierlich steigern. Ich interessiere mich für eine Ernährungsumstellung, die hoffentlich meine Leistungsfähigkeit optimieren wird und freue mich daher schon sehr auf wertvolle Inputs und Hilfe von Coni. Sie und Carmen von der Aktiv Physio waren dieses Jahr Teil eines genialen Betreuerteams, welches meinem Vater und mir hundertprozentige Unterstützung geboten hat. Ohne diese Hilfe und Betreuung auf hohen Niveau, wären wir bestimmt nicht so weit gekommen.

Was ich nicht verlieren möchte, ist meine Freude. Obwohl das Ganze für mich in einem regelrechten Desaster endete, gab es unglaublich viele schöne Momente, die ich nicht vergessen werde. Der Sonnenaufgang, die Berge, das Glitzern der Sonne auf dem See, oder das wunderbare Gefühl, wenn man auf einer Passhöhe ankommt. All das und noch vieles mehr darf ich dank dem Radfahren erleben. Ich schätze mich glücklich, dass ich solche Erlebnisse haben darf und bin sehr dankbar, für die Unterstützung, die ich von allen Seiten kriege.

Bisher hatte ich weder im Sport noch in der Schule wirklich versagt und war mir demnach nicht bewusst, was es heisst, ein Ziel nicht zu erreichen, oder etwas nicht fertigzubringen.

In den vergangenen Tagen habe ich gelernt, dass ich keine Verliererin bin. Sehr viele Leute haben mir für unsere Leistung gratuliert, man hätte meinen können, wir hätten die 1000 Kilometer geschafft. Inzwischen bin ich auch stolz auf mich selbst, besonders weil ich nicht aufgebe. Gedanklich bin ich schon bei der TORTOUR 2020 und werde alles geben, um den kleinen Traum doch war zu machen. Dazu gehört noch mehr Training, Schweiss und Leidenschaft als letztes Jahr, aber dafür bin ich bereit. Denn mein Vater erinnert mich fast täglich daran: «We have unfinished business.»

[Autorin: Sabrina Bugmann]

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