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Das Hirn sagt «Stopp» nicht unsere Muskeln!
Eine spannende Erkenntnis: Unsere körperliche Leistungsfähigkeit wird durch das Gehirn kontrolliert. Es sind nicht die Muskeln, welche bei Ermüdung «Stopp» rufen und Ihren Dienst versagen. Zu diesem Thema äussert sich Alex Hutchinson, ein führender Wissenschaftsjournalist in der Welt des Sports. Der Kanadier erklärt im Interview mit dem Tages-Anzeiger vom 22. November 2018, warum man seine Körpergefühle beim Sporttreiben durchaus ignorieren darf – und weshalb jeder Hobbyathlet im Training immer wieder lächeln sollte.

Welche Studie der jüngeren Zeit fasziniert Sie am meisten?
Die Arbeit eines Italieners zum Unterbewusstsein. Er projizierte Radfahrern in einem Ausdauertest die Bilder lachender oder stirnrunzelnder Gesichter an die Wand – für 16 Millisekunden. Die Velofahrer nahmen diese Bilder also nicht bewusst wahr. Zeigte er ihnen lächelnde Gesichter, hielten sie 12 Prozent länger durch.

Was schliessen Sie daraus?
Dass unsere körperliche Leistungsfähigkeit nicht durch unsere Muskeln, sondern durch unser Hirn kontrolliert wird. Es limitiert uns, obschon wir glauben, unser Körper gebe die Grenzen vor.

Das Hirn ist der Boss?
Wir glauben zwar, unsere körperlichen Limiten durch unsere Körpersignale zu erfahren. Richtig ist: Wir fahren nicht langsamer Rad oder rennen langsamer, weil unser Herz maximal schlägt oder unsere Temperatur zu hoch steigt. Wir tun es, weil unser Gehirn solche Signale wahrnimmt und uns darauf bremst. Ein lächelndes Gesicht verändert unsere Körperwahrnehmung und führt dazu, dass wir länger durchhalten. Sind wir positiv gestimmt, interpretieren wir unsere Körpersignale anders, als wenn wir negativ gestimmt sind.

Sollen sich alle Sportler während des Trainings also mit positiven Bildern eindecken?

Ich will damit ja nur sagen: Wenn ein positives Bild, das man einem Athleten für so kurze Zeit zeigt, schon seine Leistungsfähigkeit verbessert, dann sollten wir uns definitiv mit dem Thema befassen, wie unser Denken die Leistung beeinflusst. Mein Fazit der Studie ist also: Jeder Sportler, der leistungsorientiert denkt, sollte bewusst sein, in welchem geistigen Zustand er Sport treibt. Oder anders formuliert: Er sollte seinen Geist mit positiven Dingen stimulieren.

Lächelt Weltrekordhalter Eliud Kipchoge darum immer wieder auffallend und lange während seiner Marathons?
Er tut unbewusst das Richtige. Darum sagt er: «Ich renne nicht mit meinen Beinen, sondern meinem Geist und meinem Herzen. Mit seinem Lächeln verbindet er also seine Beine mit dem Hirn. Als ich mich mit dem Thema zu befassen begann, hielt ich seine Aussage erst für Blabla. Je länger ich mich aber damit beschäftigte, umso mehr merkte ich. Kipchoge hat da intuitiv etwas entdeckt. Er versucht, seine Gefühle zu kontrollieren – und damit, wie er seine Körpersignale interpretiert.

Welche Stimulation wirkt besser – die eigene oder fremde, innere oder äussere?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Klar ist: Die eigene Stimulation können Sie beeinflussen, die externe nicht. Also scheint mir die eigene nur schon aus diesem Grund praktischer und naheliegender.

Setzen Sie Ihre Erkenntnisse um? Lächeln Sie beim Rennen?
Ich versuche es Immer wieder. Aber wenn ich Fotos von mir anschaue, die an Wettkämpfen geschossen wurden, erkenne ich stets nur den grimassierenden Alex. Zumindest im Training probiere ich, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen. Ich renne so zwar nicht schneller, fühle mich aber entspannter. Studien zeigen: Je stärker man während einer Einheit seine Stirn runzelt, umso strenger nimmt man das Training wahr.

Ihr Tipp an Sportler lautet folglich: «Lächelt!»?
Ja. Oder eher: Vermeidet Stirnrunzeln! (lacht) Intuitiv haben viele Coachs den Zusammenhang zwischen Geist und Interpretation der Körpersignale längst erfasst. Eine ihrer Botschaften an ihre Athleten lautet: Verkrampft euch nicht! Wenn uns unser Hirn quasi ausbremst – wie viel unserer maximalen Leistungsfähigkeit lässt es uns ausschöpfen? Je simpler die Bewegung, desto höher der Prozentsatz. Ein Gewichtheber, der primär Kraft braucht, erreicht circa 95 Prozent seines Maximums. Darum ist falsch, wenn Menschen glauben, sie könnten in Todesgefahr noch unglaubliche Kräfte freimachen. In Bezug auf die Muskelkraft gilt: Können sie nicht. Der Einfluss des Gehirns wird bei längeren Leistungen immer zentraler. Ein faszinierendes Beispiel habe ich im Freitaucher-Sport gefunden, also bei Athleten, die ohne Atemgerät tauchen. Der Weltrekord im Luftanhalten liegt bei 11:35 Minuten, was sich unglaublich anhört.

Was ist der Link zum Gehirn?
Ich hatte die Chance, mit dem US-Rekordhalter (8:35) zu reden. Er sagt: Nach gut 4 Minuten signalisiere sein Körper: Ich bin erledigt. Sein Körper reagiert mit Krämpfen, schreit so nach Luft. Erfahrene Luftanhalter können dieses Panikgefühl sehr lange unterdrücken. Im Fall des Amerikaners rund 4 Minuten. In Bezug aufs Atemhalten verschiebt der Amerikaner sein Limit also um einen Faktor 2. Daraus ergibt sich natürlich nicht, dass jeder seine Marathonbestzeit um die Hälfte drücken kann. Es zeigt aber, dass sich gerade im Ausdauersport viele noch stark verbessern könnten.

Aber wird es nicht gefährlich, wenn man seine Körpersignale missachtet wie ein Freitaucher?
Natürlich hat uns die Natur bewusst mit einer Sicherheitsmarge ausgestattet. Sie ist in den allermeisten Fällen aber so gross, dass wir näher an unser Limit können – ohne unsere Gesundheit zu riskieren.

Bitte ein Beispiel für diese kühne Aussage.
Gehen wir zurück zu den Tauchern: Verfügen sie über keinen Sauerstoff mehr, werden sie bewusstlos. Das Hirn wechselt in einen Stand-by-Modus. Wer sich dann 30 Meter unter Wasser befindet, stirbt. Wer allerdings in einem Pool, wo Hilfe nah ist, seinen Atem anhält, überlebt ohne Schäden – weil ihn der Körper durchs Bewusstloswerden schützt. Es ist die nächste Ebene der Sicherheitsmarge. Ich sage darum allen Sportlern da draussen: Es ist fast unmöglich, sich in Lebensgefahr zu pushen.

Jetzt übertreiben Sie!
Natürlich gibt es Ausnahmesituationen. Das Gehirn interpretiert etwa extreme Hitze nicht immer akkurat. Wer sich bei enormer Hitze bis ans Limit pushen kann, geht das Risiko eines Hitzeschlags ein. Dieser kann tödlich sein. Aber: Gemessen an den vielen Wettkampfläufern, ist die Zahl solcher Toter sehr klein.

Welche Tricks wende ich an, um näher ans Limit zu kommen?
Ich muss erst einmal zwischen Warnsignalen und Limit unterscheiden können. Ein Beispiel: Sie beginnen mit Joggen und werden zu Beginn stark schwitzen und einen hohen Pulsschlag fühlen, allenfalls auch schwere Beine. Also sagen Sie sich: Ich muss sofort langsamer rennen.

Klingt logisch, nicht?
Schon, aber nach einigen Trainingsmonaten werden Sie bei der gleichen Intensität ganz anders denken, sie als weniger hart wahrnehmen. Natürlich hat sich Ihr Körper angepasst – zugleich aber auch Ihr Hirn, wie es diese Körpersignale interpretieren muss. Sie lernen somit, sich mehr zu fordern – und Schmerzen zu ertragen. Oder allgemeiner formuliert: Ihr Hirn lernt, dass Ihnen Ihr Körper schlicht Informationen zusendet und Sie darum nicht gleich mit Rennen aufhören müssen, sobald Ihr Herz stark schlägt oder Sie sehr schwitzen. Dieses Grundwissen ist wichtig, um sich ans Limit bringen zu können.

Was noch?
Exposition, also sich einer Situation aussetzen. Das heisst, Sie trainieren sich regelmässig in den Schmerzbereich, damit Sie lernen, mit diesen Schmerzen umzugehen. So können Sie ihren Schmerz-Level kontinuierlich erhöhen. Darin besteht ein grosser Unterschied zwischen Profi Normalos. Beide sind gleich schmerzempfindlich.

Aber?
Profis können Schmerzen länger aushalten. Sie geben unter Schmerzen weniger schnell auf als Durchschnittssportler. Sie haben durch das tägliche Training psychologische Mechanismen entwickelt, wie sie solche Schmerzen länger tolerieren können. Sich abzulenken, gehört dazu, oder die Schmerzen schlicht als Information wahrzunehmen – sie also nicht negativ zu interpretieren. Darum gilt für jeden Hobbyathleten: Geh raus fordere dich, nimm Schmerzen an!

Quelle: Tages-Anzeiger – Donnerstag, 22. November 2018

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